Der Eurovisionsweg war für Ann Sophie steiniger gewesen als für alle anderen Künstlerinnen und Künstler. Anfang 2015 veranstaltete das deutsche Fernsehen ein Clubkonzert. Zehn unbekannte Talente kämpften um eine Wildcard, die ihnen einen Platz im deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest einbringen sollte. Ann Sophie gewann.
Bei m deutschen Vorentscheid „Unser Lied für Österreich“ lief alles gut. Ann Sophie ließ sechs weitere Teilnehmer hinter sich und steuerte auf die Endphase des Finales zu. Darin ging es um die Entscheidung zwischen ihr und einem Sänger namens Andreas Kümmert. Nach der letzten Wahlrunde erklärte die Moderatorin Kümmert zum Sieger. Aber noch in der Sendung lehnte dieser sein Ticket nach Wien ab.
Ann Sophie fuhr an seiner Stelle. Beim Song Contest sang sie Black Smoke – landete jedoch mit null Punkten auf dem letzten Platz. Nachdem sie so vom Sieg in die Niederlage geschleudert worden war, reagierte Ann Sophie sehr elegant: Sie verbreitete ein Video, in dem sie zusammen mit ihren Background-Sängerinnen eine alternative Version des schwedischen Gewinnersongs (Heroes) zu Gehör brachte: „We are the zeroes of our time“.
Ein offenherziges Gespräch darüber, Erlebtes zu vergessen, um neu anfangen zu können.

TEIL EINS: VOM SCHREIBEN UND VOM NEUANFANG

Das Erste, was einem auf deiner tumblr-Seite auffällt, ist eine Kurzgeschichte, die du geschrieben hast.
Ich schreibe sehr gern, aber um noch mehr zu posten fehlt mir bisher der Mut. Ich habe immer ein Schreibheft bei mir. Ich schreibe über meine Erfahrungen und darüber, wie ich die Welt und die Leute um mich her wahrnehme. Daneben habe ich ein Heft für kleine Monologe. Außerdem arbeite ich gern an meinen eigenen Songtexten.

Hast du schon immer gern geschrieben?
Als ich jünger war, habe ich einen Haufen Gedichte geschrieben. Aber in dieser Zeit war mir meine Lyrik so heilig, dass ich sie nur meiner Mutter und meinem besten Freund gezeigt habe. Bis ich anfing, das Schreiben mit meiner Musik zu kombinieren. Ich denke, ich sollte eigentlich mehr schreiben. Aber das Ding ist … ich kämpfe ein bisschen mit meiner Website, weil ich mehr oder weniger ganz von vorn anfangen muss. Manchmal denke ich, dass niemand meine Posts liest, und dann halte ich mich zurück. Dass sollte ich eigentlich nicht tun, aber es ist schwierig. Ganz von vorn anzufangen ist eine Riesen-Herausforderung. Dafür muss ich wieder Vertrauen aufbauen und das, was ich erlebt habe, vergessen.

Fühlt es sich wirklich wie ein völliger Neubeginn an?
Nicht völlig, aber es bedeutet, das Vergangene hinter sich zu lassen. Während des Eurovision Song Contests hatte ich noch eine Plattenfirma, jetzt nicht mehr. Das heißt, ich muss alles selbst machen. Ich organisiere meine eigenen Konzerte, ich entwerfe alles selbst, muss die Arbeit an einem neuen Album regeln. Das macht Spaß, aber es ist auch eine Menge Arbeit und Stress.

Wusstest du schon während des Song Contests, dass deine Plattenfirma nur eine CD mit dir machen wollte?
Nein. Sie hatten mir eine Tournee versprochen, ein zweites Musikvideo, eine zweite Single. Sie hatten mir alles Mögliche versprochen, und dann haben sie mich fallenlassen. Das war sehr schwer für mich. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich darüber reden wollte, aber es gibt so viele junge Leute, die Künstler werden wollen und keine Ahnung davon haben, wie die Wirklichkeit sein kann. Im Fernsehen sehen sie das eine Prozent berühmter Künstler und machen sich nicht bewusst, wie die anderen 99 Prozent kämpfen und sich den Arsch aufreißen. Niemand redet davon, wie hart es ist, und wir müssen sie wissen lassen, dass es nicht immer ein erstrebenswertes Leben ist. Ich habe in vielfacher Weise Glück gehabt, aber zugleich muss ich sagen, dass das Künstlerdasein sehr, sehr tough ist. Ich denke, wenn ich jemals wieder erfolgreich sein werde, dann werde ich definitiv auch davon sprechen.

Du sagst: Falls ich je wieder erfolgreich sein werde. Bedeutet das, dein Erfolg ist dahin?
Es gibt vielleicht nach wie vor Fans, die an mich denken, aber sie sehen nicht, was ich durchmache. Vor zwei Jahren hatte ich drei Teams, derren Job es war, Dinge für mich zu ermöglichen. Ich ging zu Events, ich war in jeder deutschen Fernsehshow. Und jetzt? Ja, auf der Straße erkennen mich die Leute noch, was mich jedes Mal wieder verwundert. Es ist zum Kuckuck schon zwei Jahre her, wieso erinnern sie sich noch daran? Ich habe sehr treue Fans. Sie kommen zu meinen Konzerten, hören mir zu und wollen Zugaben. Dafür bin ich sehr dankbar, denn wenn ich sie nicht hätte, wüsste ich nicht, wie weitermachen. Aber gleichzeitig bin ich dankbar, dass alles so gekommen ist, weil ich jetzt wirklich tun kann, was ich will. Ich kann meinen eigenen Musikstil finden. Meine Lieder bedeuten mir sehr viel. Auf meinem letzten Album, dem bei Universal, hatte die meisten Songs nicht ich geschrieben. Und für mich fehlte darum etwas. Wie soll ich etwas wahrhaftig und ehrlich singen, wenn ich es nicht selbst geschrieben habe? Ich denke, die Leute wollen Sängerinnen und Sängern nahe sein. Sie wollen wissen, was in dir umgeht.

Manche Lieder von Silver into gold, dem Album, das du wegen des Eurovision Song Contests machen durftest, stammen von deinem ersten Album Time extended.
Ja, die hatte ich geschrieben, aber produziert wurden sie von jemand anderem. Ich mochte sehr, was er gemacht hat, es war großartige Musik, aber nicht hundert Prozent Ann Sophie. Meine Musik muss ganz so klingen, wie ich bin, und das hat sie bis heute nicht.

Was wäre denn deine neue musikalische Richtung?
Singer-Songwriter, Jazz, Soul … Ich habe letztes Jahr ganz allein ein Konzert organisiert, hier in Hamburg, und das war ein großer Schritt für mich, denn ich konnte meine Angst überwinden und habe mich öffentlich ans Klavier gesetzt und so gespielt, als ob ich zu Hause wäre. Ich habe eine Weile in New York gewohnt, und da bin ich immer wieder in eine bestimmte Bar gegangen, um die Künstler dort bei ihren Auftritten zu beobachten. Und dann habe ich mir gedacht: Das will ich auch, auf der Bühne sein und meine eigene Musik spielen. Das hatte ich mir von da an in den Kopf gesetzt. Und jetzt, vier Jahre später, habe ich endlich den Mut gefunden, es auch zu tun. Also war ich nach diesem Auftritt nicht nur stolz, sondern ich fühlte mich auch unabhängig. Selbst meine Freunde haben mir hinterher gesagt, sie hätten sich mit an diesem Abend ganz nah gefühlt.

Nach dem Auftritt in Hamburg folgte ein weiterer – in New York. War das in der Bar, die du immer besucht hast?
Nein, es war woanders, aber es war fantastisch, es war mitten in einem Viertel, wo die Post abgeht. Gott, ich war vielleicht nervös! Es war aberwitzig, aber ich wollte es hinbekommen, und das habe ich. Sie haben mich gefragt, noch mal wiederzukommen, und das werde ich natürlich. Hinterher habe ich hier in Deutschland noch in einem Radiosender gespielt, und ich werde weiter in derselben Art auf kleinen Bühnen auftreten. Sobald ich mehr Geld habe, kann ich alles noch etwas größer machen. Ich will beispielsweise unbedingt noch ein Cello in meiner Musik, das heißt, irgendwann sitzt auf der Bühne eine Cellistin oder ein Cellist neben mir.

Arbeitest du an neuen Songs?
Ich habe schon so acht bis zehn, und von denen möchte ich jetzt die besten aussuchen und herausfinden, wie sie klingen müssen. Die Songs sind natürlich unterschiedlich, aber was den Stil angeht, sollten sie schon die gleiche musikalische Botschaft vermitteln.

Welcher Stil wird das sein?
Weg von den großen Sounds, weg vom Pop.

Warum?
Weil ich dieses ganze künstlerische Getue nicht ausstehen kann, das ist alles viel zu laut, ich kann es nicht mehr hören. Ich möchte etwas Pures, Ehrliches, Raues. Etwas, das man sich anhört, wenn man mit einem Glas Wein in der Hand über vergangene Tage und vergangene Beziehungen nachdenkt. Jeder ist eingespannt, jeder ist immer mit seinem Telefon zugange, jeder macht, macht, macht. Ich will, dass meine Musik die Menschen zur Ruhe bringt. Nach meinem Konzert hat ein Typ zu mir gesagt: „Ann Sophie, das war das erste Mal seit langem, dass ich mal wieder die Augen schließen konnte, während jemand etwas vorgespielt hat.“ Für mich war das ein großes Kompliment.

Deine Songtexte sind oft sehr persönlich. In deinem YouTube-Kanal hast du über die weiterführende Schule geschrieben und wie vereinzelt du dich da als Einzelne gefühlt hast, dass du in größeren Gruppen Angst hattest. Und genau dieses Mädchen teilt seine Erfahrungen jetzt mit der ganzen Welt.
Ja. Schule, das war schwierig für mich. Ich war immer die Außenseiterin, und die ganze Zeit wurde über mich getratscht. Jetzt, wo ich etwas älter bin, weiß ich, dass sie das aus Unsicherheit getan haben. Ich habe keine Angst, offenherzig zu sein, und ich fürchte mich nicht vor der Wahrheit. Und wenn sie hässlich klingt, dann klingt sie eben hässlich. Ich mag einfach nicht diese oberflächliche Lebensart, weißt du. Ich brauche Wahrhaftigkeit, und so schreibe ich direkt aus dem Herzen. Und ich glaube, es gibt sehr viele Leute da draußen, die auch Außenseiter waren, denn bis zu einem gewissen Grad sind wir alle gleich.

Hat das Gefühl, eine Außenseiterin zu sein, dich beschädigt, oder hat es dir geholfen?
Natürlich hat es mich beschädigt, ganz sicher. Und ich habe immer noch das Gefühl, nicht dazuzugehören, immer und überall, wo ich bin. Ich fühle m ich immer ein bisschen deplatziert. Aber genau dieses Gefühl hat mich zum Singen gebracht. Ich wollte meine eigene kleine Welt kreieren, eine Welt, in der ich mich sicher und zugehörig fühlte. Ich denke, inzwischen gefällt es mir, anders zu sein. Das Schönste, was ich erreichen kann, ist, dass die Leute denken: Cool, dieses Mädchen ist nicht wie die anderen.

Hast du noch Kontakt mit Leuten von deiner Schule?
Selten. Ich habe einen guten Freund, den ich noch oft sehe, aber die anderen? Ich bin fertig mit dieser Zeit und auch mit diesen Leuten. Das klingt hart, aber ich glaube, es ist wichtig, sich mit neue Freunden, neuen Umständen und neuen Dingen zu bereichern. Manchmal wachsen Freunde auch mit einem mit, und das ist wunderbar. Aber anderen bleiben dieselben, und das will ich nicht.

Wirst du irgendwann einmal über diese Zeit schreiben?
Weißt du, wenn ich schreibe, denke ich eigentlich nie nach, worüber ich schreiben sollte. Wenn ich am Klavier sitze, spiele ich ein paar Akkorde, danach kommt eine Melodie in mir auf, und diese Melodie schreibt anschließend den Text. In dem Moment existiert mein Ego nicht mehr. Meine Emotionen schreiben den Text.

Wenn deine Texte intuitiv entstehen, wie du sagst, werden sie dann nicht sehr unbestimmt?
Emotionen sind doch nicht unbestimmt, oder? Die Melodie zieht die Worte hervor. Manche Worte passen zur Melodie und andere passen schlichtweg nicht. Natürlich sorge ich beim Schreiben dafür, dass die Bedeutung klar bleibt, das Lied soll ja nicht irgendwelche anderen Richtungen driften.

Dein neuer Song Mastercard hat einen originellen Titel.
Danke. Ich bin superstolz auf diese Sätze: I was your Mastercard. Gold and rich. You swiped me all the time. Until I ripped. Ja, das wird einer der Songs, an denen ich weiterarbeite.

Du hast eine Zeitlang in New York gewohnt. Würdest du gern wieder dorthin?
Ich will mir jetzt wirklich eine Basis hier in Deutschland aufbauen. Ich denke, das ist sehr wichtig. Ich habe meine Familie hier, meine Freunde, meine Universität. Ich würde gern wieder in New York wohnen, oder beispielsweise auch in London, wo ich geboren bin. Aber erst muss ich mich konzentrieren, und dann wird alles irgendwann zusammenkommen.

In deinen Liedern sprichst du vom „Schicksal“.
Besonders in einem, das von jemandem handelt, in den ich verliebt war. Ach, wie habe ich den Burschen geliebt! Es kostete mich drei Jahre, darüber hinwegzukommen. Drei Jahre, das isrt Wahnsinn! Aber ja, ich glaube, dass manche Ereignisse vorherbestimmt sind. Und wenn Sachen schiefgehen, dann hinterlassen sie einem zumindest schönes Material für ein Lied.

Aber wenn das Schicksal entscheidet, was geschieht, was ist dann noch deine Rolle?
Du musst Situationen herstellen, und du musst wissen, was du willst. Wenn deine Botschaft klar ist, fällt alles an seinen Platz. Ich war eine Zeitlang … ich weiß nicht … ich habe einfach viel zu viel gemacht. Bis ich verstand, dass ich demütig sein und mich auf einige wenige Dinge konzentrieren musste, und dass ich ehrlich sein muss. Wenn es um ums selbst geht, sind wir gewaltige Lügner. Es gibt so viele Stimmen und Leute um dich herum, die sagen, was du zu tun und wer du zu sein hast. Aber letztlich geht es nie darum, was andere von dir halten. Ansonsten musst du einfach auch Chancen reagieren, die das Leben dir bietet. Ich meine, ich sehe mich noch nicht drei Jahre lang auf dem Mount Everest sitzen und denken: „Alles, was geschehen muss, geschieht von selbst.“

Aber was bedeutet das in diesem Moment konkret für dich?
Zum Beispiel: Letztes Jahr sah ich das Swing Dance Orchestra hier in der Hamburger Laeiszhalle. Die spielen in dem Zwanziger-Jahre-Stil von Benny Goodman. Als ich sie hörte, habe ich zu einer Freundin gesagt: „Nächstes Jahr stehe ich da auch.“ Also habe ich dem Dirigenten eine E-Mail geschickt, und tatsächlich habe ich letzten Dezember mit ihnen gesungen.

Was muss man also tun, um solche Chancen zu kreieren?
Tja, man muss Mumm haben. Denn die Leute können nein zu dir sagen. Aber wer nicht fragt, bekommt auch nie ein Ja zur Antwort. Manchmal gehe ich zu große Risiken ein. Aber ich denke immer: Wenn du es nicht versuchst, wirst du es später bereuen. Natürlich ist es nicht schön, Fehler zu machen und Schläge einzustecken. Aber letztlich machen einen all diese Dinge erst wirklich stark.

Ist es nicht auch eine Frage des Geldes?
Ja, es ist oft eine Budgetfrage. Ich meine, ich habe Glück gehabt, mein Vater ist mein größter Fan, er unterstützt mich immer. Und ich habe auch etwas gespart. Ich will imstande sein, alles selbst zu bezahlen. Das erste Jahr, in dem man ein Geschäft aufbaut, ist immer ein Kampf. Man muss viel Geduld haben, und ich bin so ungefähr die ungeduldigste Person, die es gibt. Ich habe mich da zwar etwas gebessert, aber ja, auf sein Herz zu hören ist sehr schwer, auch weil es nicht schreit – es flüstert.

(Teil zwei: Mittwoch!)


Übersetzt von Rolf Erdorf.